Die schnaufenden Stromfresser machen der Traditionsfabrik an der Alb zu schaffen
Ettlingen, 29.10.2021 - Der saftige Preisanstieg an der Strombörse trifft energieintensive Betriebe wie die Ettlin AG in Ettlingen ins Mark
Die BNN Redakteurin Erika Becker im Interview mit Oliver Maetschke, CEO der ETTLIN AG.
Sie stehen in schier endlos langen Reihen in großen Hallen an der Alb in Ettlingen und schuften schnaufend vor sich hin: Die Webmaschinen der Ettlin AG verkreuzen unter höchstem Energieaufwand im Gewerbepark Fäden, unermüdlich rauf und runter. Kette und Schuss heißen sie. Weitere Kettfäden werden nebenan gerade unter ebenfalls hohem Stromverbrauch wie von Geisterhand von etlichen kleinen Garnspulen auf zigmal so große Spulen, Kettbäume genannt, gewickelt.
„Dieser Preis wäre für uns permanent nicht stemmbar." Oliver Maetschke Vorstand Ettlin AG
Vorstand Oliver Maetschke führt durch die Hallen mit ihrer traditionsreichen und wechselvollen Textilgeschichte. Einst war Ettlin die erste und größte Spinnerei und Weberei Badens. Jetzt erscheinen manchem die Maschinen angesichts der Entwicklungen auf dem Energiemarkt vor allem als nimmersatte, kaum mehr zu bezahlende Stromfresser. 6,5 Millionen Kilowattstunden Strom verbraucht Ettlin pro Jahr in diesen Hallen – so viel wie eine kleine Stadt. Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, zeigt der Gesetzgeber daher Entgegenkommen bei den Abgaben: Ettlin ist als energieintensiver Betrieb teilweise von der EEG-Umlage befreit. Die 6,5 Cent weniger pro Kilowattstunde rechnen sich bei dem Verbrauch enorm. „Ohne diese Entlastung wären wir mit vielen unserer Produkte und diesem Standort hier nicht wettbewerbsfähig“, bilanziert Maetschke.
Preis auf dem Spotmarkt hat sich mehr als verdoppelt Doch dann kommt die Krise mit ihrem vorläufigen Höhepunkt: Der 7. Oktober ist der bislang schwärzeste Tag, das Tageshoch am Spotmarkt liegt bei 442,90 Euro pro Megawattstunde Strom. „Diesen Peak hat niemand vorausgesehen“, sagt Maetschke. Die Krise trifft Ettlin ins Mark. Ein gewisses Entsetzen ist dem promovierten Maschinenbauingenieur mit jahrzehntelanger Managementerfahrung anzumerken, wenn er auf einer Grafik zeigt, wo die rote Linie ihren höchsten Punkt erreicht. Schon die Entwicklung davor erfüllt ihn mit Sorge: Bei den Fertigungskosten habe sich der Anteil der Stromkosten seit Mai verdoppelt.
„Da lag der Preis auf dem Spotmarkt noch bei 5,3 Cent, im September bei 13,5 Cent, mehr als doppelt so hoch. Für einen energieintensiven Betrieb wie uns ist das eine Welt.“ Würde Ettlin nur auf dem Spotmarkt seinen Strom kaufen, hätte das Mehrkosten von einer Million Euro bedeutet. Ganz so schlimm ist die reale Lage zum Glück nicht, der Manager und seine Energieberater haben die Risiken verteilt. „Wir haben eine Mixstrategie. Wir kaufen einen Teil längerfristig im Voraus, einen Teil mittelfristig, und auch einen Teil am Spotmarkt – mehr oder weniger.“ Wie genau der Mix aussieht, verrät er nicht – die Wettbewerber sollen ihm nicht zu tief in die Karten schauen. Dennoch: Der Preisanstieg ist höher als die Entlastung bei der EEG-Umlage. Bliebe der Preis so – „das wäre für uns permanent nicht stemmbar.“
Die Energie war schon immer ein Thema bei der Spinnerei und Weberei im vorderen Albtal, wo einst Mühlräder die Maschinen antrieben. Das Wasserkraftwerk gibt es immer noch, ein wichtiger Teil des Stroms wird darüber erzeugt. Der auf den Dächern produzierte Solarstrom wird ins Netz der Stadtwerke Ettlingen gespeist. Er kommt dem Immobilienbetrieb zugute. Zur AG gehört auch der gesamte Gewerbepark. Das verleiht Sicherheit in diesen Zeiten. Doch die eigene Wasserkraft, das alles reicht nicht, wenn man sich die Produktionsbedingungen der Konkurrenz anschaut.
In der Textilproduktion ist der Wettbewerb gegen die Asiaten mit ihren niedrigen Lohn- und Umweltstandards eigentlich nicht zu gewinnen. „Wir haben hier aber ein paar Pfründe, wie die gute Verkehrsinfrastruktur, gut ausgebildete Menschen und eben auch eine verlässliche Energieversorgung, was Preise, Berechenbarkeit und Versorgungssicherheit angeht. Wenn sich da jetzt eine disruptive Veränderung ergibt, dann kann das zu Verschiebungen führen, die den Standort Deutschland schlechter dastehen lassen.“ Disruptiv, das heißt zerstörerisch, das Alte radikal in Frage stellend. Das musste Ettlin in seiner Geschichte schon so oft tun, das Alte ad acta legen und sich neu erfinden. Von der Wiege der badischen Bekleidungsindustrie mit rund 2.000 Beschäftigten, die dann Uniformen und später Bettwäsche produzierte, Totalzerstörung im Krieg, ein Brand in der Baumwoll-Aufbereitung 1994 bis hin zu technischen Textilien mit nunmehr 140 Mitarbeitern: Sie produzieren für die Schleifmittel- und die Autoindustrie. Flucht nach vorn, nennt Maetschke das. „Wir müssen es besser machen. Billiger sind wir nie.“
Anfang 2019 schließlich ein weiterer harter Schnitt: Die Geschäftsleitung schließt die defizitäre Spinnerei mit ihren 29 Beschäftigten. Maetschke sieht sich im Licht der jüngsten Entwicklung bestätigt, die Spinnerei brauchte dreimal so viel Strom wie die Weberei.
Leuchtende Ideen mit weniger Energieaufwand Unabhängiger von der Energie werden, weg vom Zulieferstatus – diese Ziele treiben Maetschke seit rund zehn Jahren um. In seiner Entwicklungsabteilung entsteht die Idee, die Ettlin-Gewebe mit Licht zu vereinen: Über LEDLampen gelegt ergeben sich Lichtstrukturen mit dreidimensionalem Effekt, die sich je nach Abstand des Gewebes und dem Blickwinkel des Betrachters verändern. Der Raum erhält Tiefe, dunkle Ecken und Wände erleuchten. Monumentale Lichtsäulen der Künstlerin Rosalie mit Ettlin-Stoffen rücken die Eröffnungsfeier der Elbphilharmonie in Hamburg ins rechte Licht.
Eine garantierte Erfolgsidee, sollte man meinen. Und doch: Der Marktzugang fehlte den Ettlingern. „Das haben wir unterschätzt“, meint Maetschke selbstkritisch. Corona tat ein Übriges – Restaurants, Hotels, Messebau, sie hatten andere Sorgen als über Lichtgestaltung durch Ettlin Lux nachzudenken. Jetzt geht Ettlin mit Lampen und Leuchtgeweben auf den Endkundenmarkt. Und setzt mit den LED-Lampen passend zur Zeit auf verbrauchsarmes Licht. Die Lage auf dem Energiemarkt, davon geht Maetschke aus, werde sich kommendes Jahr wieder normalisieren. Diese Aussicht ist ein Lichtblick, damit bei Ettlin die Maschinen wie seit 185 Jahren weiterlaufen.